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Schubert, Anton (Hrsg.): Mathematik lehren wie Kinder lernen, Braunschweig: Westermann Schulbuchverlag GmbH 2002

Rezension

Vorwort des Herausgebers

"Weil du gerade Geometrie und Trigonometrie machst, will ich dir eine Aufgabe geben: Auf dem Meer ist ein Schiff, es kommt von Boston, es ist beladen mit Indigo, es hat zweihundert Registertonnen und segelt nach Le Havre, der Großmast ist zerbrochen, auf der Back befindet sich ein Schiffsjunge, Passa-giere gibt es insgesamt zwölf, der Wind steht Ostnordost, die Schiffsuhr zeigt nachmittags Viertel nach drei, und es ist Mai ... Wie alt ist der Kapitän?"

Dieses berühmt gewordene Zitat des 21-jährigen Gustav Flaubert, in dem ein offenbar gespanntes Verhältnis des Schriftstellers zur Mathematik bzw. zum erlebten Mathematikunterricht zum Ausdruck kommt, findet sich im Postskriptum eines Briefes vom 15. März 1843 an seine Schwester. Ein solches oder ein ähnliches Verhältnis zu diesem Fach hatten und haben - wie die Erfahrung lehrt - (leider) ganze Generationen von Schülern - vermutlich bisweilen nicht ganz grundlos...

Anfang Dezember 2000 beschäftigte sich eine mathematikdidaktische Veranstaltung der Abteilung Berufswissenschaft des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes in der Universität Regensburg auch mit der Frage nach der möglichen Genese eines solchen, vorausgehend geschilderten Verhältnis-ses von Menschen zur Mathematik und zum Mathematikunterricht: Die Beiträge spüren sensibel individuellen Lernprozessen von Kindern nach, ermöglichen dem Leser auf diese Weise das Verstehen kindlicher Wirklichkeitskonstruktionen und entwerfen neue Möglichkeiten zur Gestaltung von Mathema-tikunterricht. Erklärtes Ziel dieser Tagung war es, den Kolleginnen und Kollegen ein Spektrum praxisorientierter Theorie zu bieten, die zu einer theorie-geleiteten Praxis einen Beitrag leisten kann. Wenn man sich unter den Besuchern dieses Kongresses umhörte, wurde genau dies von den Referenten ver-wirklicht. Das war denn auch der Anstoß dazu, die Beiträge in einem Sammel-band zusammenzufassen, um sie so einem breiteren, interessierten Publikum zugänglich zu machen.

Prof. Dr. Hermann Maier von der Universität Regensburg stellt an den Beginn seiner Überlegungen zum Thema „Mathematikunterricht zwischen Steuerung und Offenheit“ die These, dass die Fachdidaktik Mathematik zu Extremen neige: nach einer langen Phase der Propagierung eines lehrergesteuerten Ma-thematikunterrichts, werde in jüngster Zeit die Schülerzentrierung und -aktivität verabsolutiert. Seine Gegenthese lautete: „Es kommt auf den richtigen Methodenmix an!“
Am Beispiel des Aufgabenlösens kritisiert er die starke Lehrerzentriertheit des Mathematikunterrichts. So würden heute in der Regel Lösungswege und Darstellungsformen den Schülern vorgeschrieben, was zu mechanischer Anwendung gelernter Regeln führe und die Rechenfähigkeit einschränke. Tatsächlich gebe es für jede Aufgabe mehrere Lösungswege und das selbständige Finden von Lösungswegen fördere mathematisches Verständnis und Kreativität. Allerdings sei eine Lehrerbegleitung unbedingt erforderlich, um nach und nach zu optimalen Rechenverfahren und Notationen zu kommen. „Offene Aufgaben“, bei denen den Schüler nur eine Ausgangssituation vorgegeben wird und sie selbst die zu bearbeitenden Aufgabenstellungen festlegten, hätten den Vor-teil, dass die Schüler sich mit dem zu Grunde liegenden Sachverhalt auseinander setzen müssten und die Aufgabenstellungen ihren Fähigkeiten anpassen könnten. Der didaktische Weg führe dann erst von den „offenen“ zu den „geschlossenen“ Aufgaben.
Grundsätzlich stellt Prof. Maier fest, dass das Jahrgangsprinzip mit altersgleichen Klassen keine optimale Voraussetzung für einen effektiven Mathematikunterricht sei. Mit innerer Differenzierung seien die Unterschiede in den Lernvoraussetzungen und Fähigkeiten nicht aufzuheben. Auch müssten nicht alle Schüler das Gleiche lernen. Er schlägt stattdessen die Bildung von klassen-, gegebenenfalls auch jahrgangsübergreifenden, möglichst leistungsho-mogenen Lerngruppen vor. Weil es für viele Schüler besser sei, „lieber wenig gut, als vieles schlecht“ zu lernen, spricht er sich für eine Lehrplanstruktur mit Pflicht- und Wahlmodulen aus, die ein Basiswissen für alle garantiere und gu-ten Schülern die Möglichkeit weiter- und tiefergehender Auseinandersetzung biete.
Der heute meist übliche fragend - entwickelnde Unterricht in Mathematik sei äußerst ineffektiv, da sich nur ein Teil der Schüler beteilige und die systematische Erklärung zu kurz komme. Prof. Maier plädiert für einen Methodenmix aus Lehrerdarbietung, mit der die Grundlagen gelegt werden sollen und an-schließender Schüleraktivität mit Einzel- und Freiarbeit oder Stationenlernen. Eine Grundlegung durch den Lehrer sei erforderlich, weil nicht alle Schüler mit den freien Lernformen gleichermaßen zurecht kämen.
In seinem zweiten Beitrag „Warum macht das Rechnen mit Dezimalbrüchen Schwierigkeiten?“ macht der Didaktiker deutlich, welche Probleme Schüler mit dieser Thematik haben, obwohl gerade das Rechnen mit Dezimalbrüchen im Gegensatz zum Rechnen mit Brüchen didaktisch weithin als unproblematisch angesehen wird. Nach Vorstellung einer Klassifikation von Schülerfehlern beim Umgang mit Dezimalbrüchen aufgrund einschlägiger empirischer Untersuchungen werden diese Fehler auf Gründe und Ursachen hin analysiert. Nach-folgend werden Anregungen zu einer Lernsequenz für die Einführung in die Dezimalbrüche gegeben und anschließend erfolgen einige Hinweise zum Er-lernen der Rechenverfahren mit Dezimalbrüchen.

Prof. Dr. Jens Holger Lorenz von der PH Ludwigsburg geht in seinem Beitrag „Wie kommen die Zahlen in den Kopf? Das Denken von Kindern bei arithme-tischen Aufgaben im mathematischen Anfangsunterricht“ von der Frage aus: „Wie rechnen Grundschüler?“ Er legt dar, wie unterschiedlich Zahlenräume („lineare Stränge“) im menschlichen Gehirn angelegt sind. Dies zu wissen, sei umso bedeutender, da auch der neue Grundschullehrplan Mathematik besonderen Wert auf die selbständigen Lernstrategien der Schüler legt.
Im Hinblick auf das Erlernen mathematischer Strukturen verdeutlicht Prof. Lorenz, dass beim mathematischen Lernmaterial insofern Vorsicht geboten sei, da im Material selbst keine Struktur bestehe: „Kinder schieben zwar bunte Plättchen hin und her. Durch das Zählen entstehen aber keine Strukturen“. Mit praktischen Beispielen zeigt Prof. Lorenz, wie in einer didaktisch richtig angelegten Aufgabenstellung („Problemlösendes Verfahren“) die „echte“ Problemstellung der Kinder ein mathematisches Sachgebiet eröffnet; dabei ist es unumgänglich, dass die Kinder die Strukturen des mathematischen Sachverhaltens erkennen.
Nachfolgend geht Prof. Lorenz auf folgende häufig anzutreffende „Fehlentwicklungen“ im Rahmen des Mathematikunterrichts ein. Der Mathematikunterricht
- betont zu stark die Algorithmen,
- zielt zu sehr auf Fehlervermeidung anstatt aus Fehlern lernen zu lassen (indem Kinder z.B. eigene Fehler selbst aufdecken)
- vernachlässigt die Geometrie
- entwickelt selten kognitive Prototypen für Operationen
- lässt individuelle Lösungen nicht zu
- verlässt sich zu sehr auf die (vermeintliche) Objektivität der Mathematik

Der Beitrag von Prof. Dr. Ludwig Bauer von der Universität Passau stellt anschaulich dar, dass man manchmal Fehler machen muss, um etwas zu verstehen. Fehler zulassen, aus Fehlern lernen, Fehler als Teil einer Unterrichtskultur sehen - das bedeutet: Kindern Zeit zum Ausprobieren lassen!
Bauer stellt heraus, dass es recht unterschiedliche Arten von Fehlern gibt, deren erfolgreiche Behebung den Lehrer immer wieder zu kritischen Analyse zwingt und eine Therapie oft genug erschwert. Die beiden gängigen Ansätze, der sog. „Defizitansatz“ (Fehler als Zeichen für Mängel, Störungen, Defizite) und der sog. „konstruktive Ansatz“ (Fehler als notwendige Momente des Lernens und als Anlass für Verbesserungen) können hierbei eine wirksame Hilfe sein. Anhand unterrichtspraktischer Beispiele wird anschaulich belegt, wie dies im Schulalltag geschehen kann. Im übrigen zeigt Prof. Bauer verschiedene Formen einer mathematischen Lerntypologie an konkreten Aufgabenstellun-gen, wobei die Wahl eines bestimmten Verfahrens - im Sinne einer Regelbildung - eine nicht immer gleichförmige Voraussetzung bilden muss.

Prof. Dr. Hartmut Spiegel von der Uni-Gesamthochschule Paderborn, fokussiert in seinem Beitrag, den er zusammen mit Verena Scholz ausgearbeitet hat, „Von Kindern lernen wie Kinder rechnen - am Beispiel der mündlichen Subtraktion“ an einem einzigen Beispiel aus dem Mathematikunterricht der Grundschule, wie vielfältig die Möglichkeiten für Schüler sein können, eine einfache Fertigkeitsrechnung zu lösen. Mit Hilfe von Unterrichtstransskripten kann der Leser die gefundenen Strategien der Schüler auch nachvollziehen und kann so einprägsam erfahren, mit wie viel Kreativität und Ideenreichtum die Aufgabe 63 - X = 36 gelöst werden kann. Als Fazit unterstreicht Prof. Spiegel die Tatsache: Jedes Kind ist Baumeister seiner Erkenntnis. Dabei fällt den Lehrern die nicht einfache Aufgabe zu, dieses konstruktive mathematische Denken wirkungsvoll und in individueller Abstufung zu begleiten. Für den Mathematikunterricht fordert Spiegel daher: Offene Lernformen, Zeit zum Nachdenken lassen und - was nicht jedem Lehrer leicht fällt - auch ungewohnte, unkonventionelle (Schüler-) Lösungen zulassen.

Ilse Wiese, Schulleitern aus Northeim, legt ihre Erfahrungen mit dem „Bruchalbum“ dar. Sie kann anschaulich verdeutlichen, welche Schwierigkeiten Schüler mit dem Bruchrechnen haben. Sie erläutert, wie sie dieses Album von den Schülern in der 5. Jahrgansstufe anlegen und zwei Jahre führen lässt und macht die Vorteile ihrer kreativitätsfördernden Methode deutlich: Die Schüler entscheiden weitgehend selbst, auf welcher Ebene (enaktiv - ikonisch - symbolisch) sie die Aufgabe angehen; das Album ermöglicht somit Individualisierung in hohem Maße. Ganz natürlich ergibt sich, dass die Schüler ihre Lö-sungswege verbalisieren, somit also „laut denken“ und der Lehrkraft dadurch die Möglichkeit geben, die Gedankengänge der einzelnen Schüler nachzuvollziehen. Eventuell auftretende Fehler werden als Schritte im Lernprozess und nicht etwa als Versagen empfunden. Durch frühes Erkennen falscher Vorstellungen kann die Lehrkraft rechtzeitig reagieren und verhindern, dass sich diese verfestigen. Im Verlaufe des Lehrgangs lernen die Schüler zu entscheiden, ob aus ihrer Sicht eine „Regelaufgabe“ (durch Anwendung einer gelernten Regel zu lösen) oder eine „Denkaufgabe“ (erfordert schrittweises Überlegen) vorliegt. Gerade in diesem Punkt erinnert das Vorgehen Frau Wieses an Prof. Dr. Hermann Maiers Einführungsbeitrag, der fordert, dass Schüler zunächst ihre selbst gefundenen Lösungswege auf ihre eigene Weise notieren sollten, bevor allmählich eine behutsame Hinführung zu normierten Verfahren erfolgt. Anschauliche Schülerbeispiele können davon überzeugen, dass mit dem „Bruchalbum“ auch bei schwachen Schülern Fortschritte zu erzielen sind.

Zwei ebenso einfache wie universelle Arbeitsmittel für den handlungsorientierten Geometrieunterricht stellt Dr. Hans-Günter Senftleben von der Universität Regensburg vor und demonstriert deren vielfältige didaktische Möglichkeiten: Das kleine Geobrett und „die durchlässige Wand“. Mit dieser Auf-gabenstellung kann man selbst ausprobieren, wie Handlungsgeometrie und Kopfgeometrie ineinander übergehen können. Theoretische Grundlage für die Entwicklung dieser Lernmaterialien war die Einsicht, dass das räumliche Vorstellungsvermögen für die Orientierungsfähigkeit und die Rechenfähigkeit von großer Bedeutung ist. Der Geometrie werde deshalb im neuen Lehrplan für die Grundschule ein wesentlich größerer Raum zugestanden und das materialgeleitete Lernen durch Handeln favorisiert. Um der Gefahr eines bloßen Aktionismus zu entgehen sei jedoch darauf zu achten, dass der Unterricht immer auf das Ziel einer geometrischen Begriffsbildung ausgerichtet sei. Das Falten, Schneiden, Kleben, Kneten, Bauen usw. müsse stets mit einem „kopfgeometrischen“ Wahrnehmen, Orientieren, räumlichen Vorstellen, mentalen Operieren und Verbalisieren verbunden sein.
Auf dem mit neun Nägeln versehenen quadratischen Geobrett können die Schüler selbst mit einem Gummiband ein Vielzahl von Dreiecken und Vierecken gestalten, deren Formen und Eigenschaften im Unterricht diskutiert und theoretisch bearbeitet werden können. Die „durchlässige Wand“ aus Holz ist mit einer Reihe von verschieden geformten Öffnungen versehen. Die beigegebenen unterschiedlichen Körper können mit Hilfe geeigneter Achsdrehungen durch verschiedene Öffnungen gesteckt werden. Die Dinglichkeit der Körper und ihre Querschnittsveränderung je nach Lage im Raum stärken das räumli-che Vorstellungsvermögen der Kinder durch das selbstständige Ausprobieren und die haptische Erfahrung.

Im wahrsten Sinn des Wortes „zur Sache“ geht bei Prof. Dr. Wolfgang Reitberger von der TU Berlin. Hier wird gezeigt, wie Lehrer und Lehrerinnen Lehrmittel für den Mathematikunterricht selbst herstellen können. Wenn man den Kollegen und Kolleginnen während der Tagung zuschaute, konnte kein Zweifel darüber entstehen, welche Fähigkeiten hier mit den Schülern entwickelt werden sollen: Strategisches und problemlösendes Denken sind dabei ebenso gefragt wie Zahl- und Rechenverständnis. Und noch etwas: Es macht unheimlich viel Spaß!




Dem Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV), der die Veranstaltung finanziell ermöglichte, sei dafür ebenso gedankt, wie dem Westermann - Verlag, der sich spontan bereiterklärte, die Tagungsbeiträge in diesem Sammelband zu veröffentlichen. Der Herausgeber würde sich freuen, wenn die hier vorgelegten Ideen und Anregungen jene Aufnahme und Beachtung in der Leserschaft finden, die sie verdienen und so einen Beitrag dazu leisten können, Mathematikunterricht so zu gestalten, dass er das individuelle Denken der Kinder ernst nimmt, es aufgreift und sich darauf einlässt.


Regensburg, im April 2001

Dr. Anton Schubert